Osteopathische Integration – Aufrichtung als Ergebnis
Internationaler VOD Kongress 01.10.2010
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bin als Arzt und Osteopath im Osteopathikum Hamburg niedergelassen, und arbeite dort sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen.
Dieser Kongress hat die Behandlung von Kindern zum Thema. Dazu möchte ich anfänglich noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen, weil ich die grundsätzliche Haltung, die grundsätzliche Intention und das Verständnis unseres Tuns für etwas außerordentlich Wichtiges halte.
Kinder sind etwas ganz besonderes. Wir erleben sie besonders im Kontakt, besonders in ihrer Anatomie und Physiologie – eben in allen Aspekten ihres Seins. Um sie angemessen behandeln zu können sollte man über ihre Besonderheiten Bescheid wissen. Diese Kenntnis braucht man später übrigens auch für die Behandlung von Erwachsenen. Wenn ein Kind zum Beispiel nicht gekrabbelt ist, hat dies Folgen für die Entwicklung einer „Achse“, einer Mitte des Körpers und wird Auswirkungen auf den späteren Gang haben. Man kann solche „Defizite“ auch später noch behandeln, sozusagen den „Kern“ des Krabbelns beim Erwachsenen therapeutisch thematisieren. Solche Kenntnisse sind für alle Altersstufen und nicht nur für Kinder oder nur für Erwachsene wichtig.
Der gesamte Lebens- und Entwicklungsprozess ist nicht einförmig aber doch ein kontinuierlicher und einheitlicher Prozess.
Unser Verständnis wird dabei vor allem von den folgenden osteopathischen Grund-Prinzipien getragen:
•Einheit des Organismus. Der Mensch mit seinen körperlichen, geistigen und seelischen Aspekten ist ein in sich zusammenhängendes Ganzes.
•Wechselbeziehung von Struktur-Funktion.
•Tendenz und Kraft zur Selbstheilung, Autoregulation.
Die Osteopathie ist ein weites Feld von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und wurde von Still mit einem Eichhörnchen verglichen, das auf vielen Ästen klettert, und gleich einem Eichhörnchen oft nicht vollständig zu erkennen ist. Bei der Suche im Wald vor lauter Bäumen übersieht man schnell die Osteopathie, und stößt auf einzelne Baumstämme, wie zum Beispiel parietale Techniken oder cranielle Techniken. Es gibt teilweise richtiggehende Ablehnung verschiedener Bereiche. Ich meine, das wird dem Wald nicht gerecht.
Wir sollten den Standpunkt des Patienten einnehmen, den einfach nur das interessiert, was ihm hilft. Dieser Mensch benutzt alle Systeme simultan und in synchroner Abstimmung.
Osteopathie orientiert sich an dem, was das Leben, bzw. die zu findende Realität vorgibt und nicht an vorschnellen Urteilen, die sich auf Unkenntnis oder persönliche Zu- oder Abneigung stützen.
Es scheint einen gewissen Mangel an wissenschaftlicher Evidenz für craniale oder viscerale „Techniken“ in der Osteopathie zu geben. Tatsächlich fehlt aber auch der Chirurgie aus ähnlichen Gründen gewisse Evidenz. Verständlicherweise operiert man niemanden Doppelblind! Neben dem berechtigten Streben nach wissenschaftlicher Evidenz scheint die Diskussion über dieses Thema oftmals politisch motiviert zu sein. Ohne dabei jetzt ausführlich auf „wissenschaftliches Arbeiten“ einzugehen, muss man feststellen, dass es osteopathische Studien und andere Evidenzen niedrigeren Grades gibt, leider noch zu wenig veröffentlicht, aber immerhin von verschiedenen Stellen gesammelt, wie zum Beispiel der Akademie für Osteopathie. Man kann feststellen, dass fast alle Studien, die eine Wirksamkeit der Osteopathie abbilden, „Osteopathie als Ganzes“ genutzt haben. Ja ist es denn ein Wunder? Genau so funktioniert der Organismus ja gleichfalls: In jeder Handlung, wie zum Beispiel dem Strecken des Ellebogens, steckt das gesamte Spektrum des menschlichen Seins dahinter. Biomechanisches System, Durchblutung, Biochemie / Stoffwechsel, Energieumsatz, elektromechanische Koppelung, neuronale Aktivität von Hirn und Peripherie, psychoemotionale Gestimmtheit (z.B. ein Greifen oder ein Begrüßen) und manchmal sogar auch ein mentaler Vorgang.
Dann können wir uns überall umschauen, um das Eichhörnchen zu entdecken. Manchmal haben wir Glück und können uns so mit den Bedürfnissen des Patienten synchronisieren, dass wir das Eichhörnchen sehen. Und auch wenn für Manche zum Beispiel das parietale System und das „cranielle Feld“ getrennt erscheint, so springt das Eichhörnchen doch locker hin und her. Welchen Grund könnte man sich auch für solche Trennungen ausdenken? Ist eine Ellenbogen Extension ohne elektrische Depolarisierung denkbar? Eine Hirnfunktion ohne Durchblutung, und so weiter?
Es erscheint mir als Fehler, diese Trennungen stehen zu lassen. Analysen von einzelnen Teilen sind wertvoll, sollten aber sinnvollerweise zu einem Verständnis des Gesamtsystems führen.
Sonst entsteht eine Spezialisierung die von Zeitgenossen beobachtet worden ist:
Der Spezialist weiß immer mehr über immer weniger – bis er am Ende alles über nichts weiß.
‚Spezialisierungen’ wie Kinderosteopathie, Sportosteopathie, geriatrische Osteopathie oder sonstige Unterteilungen widersprechen meines Erachtens dem komplexen Verständnis der Osteopathie.
Meiner Meinung nach stellt sich uns die Aufgabe, ein tiefes Verständnis der Behandlungsprozesse zu erreichen. Dies, ohne den differenzierten Blick auf alle Aspekte des Organismus, seine psychoemotionalen und mentalen Dimensionen zu vernachlässigen.
Zur Integration dient der osteopathische Blick auf die inhärente Gesundheit, eine Sinfonie, die von unterschiedlichsten Instrumenten harmonisch getragen wird. Eine integrierte Einheit aller Systeme bei der jeder Osteopath seinen Zugang entsprechend seiner Neigung unterschiedlich gewichtet.
Unser Behandlungsziel in der Osteopathie ist Gesundheit. Dies scheint nicht originell zu sein, ist jedoch schwierig zu fassen und abzugrenzen und lohnt der genaueren Betrachtung.
Woran erkennen wir Gesundheit? Und Krankheit?
Blutwerte, Ultraschallbilder, kindliche Reflexmuster, Haltungs- und Bewegungsmuster, oder andere Parameter und Tests lassen sich bestimmen. Gesundheit zeigt sich aber auch als Gesamtbild und weniger fragmentarisch (unterteilt). Wir würden doch nicht das Nervensystem zur Hälfte gesund bezeichnen, weil es ja noch einige Intakte Bereiche gibt. Auch sehen wir als Osteopathen Auswirkungen von lokalen Dysfunktionen immer auch im Bezug zur Globalität des Körpers. Spielen die Geigen ‚schräge’, wird mehr oder weniger der Klang des ganzen Orchesters in Mitleidenschaft gezogen.
Wie gestaltet sich also das gesunde menschliche Wesen?
Der ganze Lebensprozess ist ein Wachstums- und Entwicklungsprozess; von der Befruchtung bis zum Tod. Entfaltung und Regression, Auf- und Abbauprozesse sind wesentlich für unser Leben mit seinem vitalen und dynamischen Fließgleichgewicht.
Es ist ein fortwährender Aufrichtungsprozess. Dabei ist Aufrichtung weder allein körperlich, noch uniform!
So descendieren die cervicalen Vornieren, gehen in Urnieren über und finden sich als Nachnieren im Beckenbereich. Durch späteres Größen- und Längenwachstum, in dem die parietale Körperwand dominiert, entsteht ein relatives Aufsteigen der Nieren bis zum thorakolumbalen Niveau. Wir beobachten in der Entwicklung sowohl Migration von Zellgruppen / „histologische Bewegung“ / Gewebedynamik, wie auch makroskopische Relativbewegungen. Die Migration bestimmt die embryonale Phase und lässt einen Staunen, wie exakt alle komplexen Abläufe integriert werden. Neuronale Zellgruppen durchstreifen das Nervensystem und erstellen so funktionelle Bahnen und Verknüpfungen und sind stets perfekt an Anforderungen des Milieus angepasst. Das sind wichtige Eigenschaften, die wir auch später in der osteopathischen Behandlung beobachten und als inhärente Intelligenz bezeichnen über deren therapeutische Anwendung Eva Möckel zuvor gesprochen hat.
Wie könnte man embryonale Dynamiken unterstützen? – Wohl eher so wie wir Gewebedynamik und Primäratmung unterstützen.
Dabei ist Aufrichtung ein nicht-linearer, nicht-gleichförmiger Prozess mit gegengleichen Bewegungen von Innen und Außen bzw. internen und externen Flexions- und Extensionsbewegungen. Dabei spielen biochemische, genetische, hydrostatische, psychoemotionale (!) und mechanostatische Prozesse eine Rolle. Es sind nicht die nach oben führenden Bewegungen die eine Aufrichtung verursachen, vielmehr benötigt ein Aufsteigen ein dazu relatives Sinken.
Was steigt auf und wird geliftet – und was sinkt, wird sinken gelassen? Dies ist eine Frage, die unser ganzes Leben begleiten kann und immer neue Antworten finden muss.
Für die Streckung des Gesichtschädels ist der Descensus des Diaphragma thoracis entscheidend,
für eine mechanostatische Aufrichtung ein sinken lassen des Gewichtes und
Ehrlichkeit und Offenheit für einen aufrechten Geist.
Alle Aspekte der Entwicklung steuern zu einer Aufrichtung bei und führen zu einem aufrechten -, aufrichtigen -, aufgerichteten Menschen.
Sehen wir uns die Kraftrichtungen für eine Aufrichtung am Beispiel der Schwerkraft an. Gravitation ist eine permanent wirkende Kraft, die uns zum Erdmittelpunkt zieht. Doch wenn ein Körper den Boden erreicht, bleibt er in Ruhe, da die Gegenkraft ihn in einem genauen Gleichgewicht zur Gravitation am Platz hält.
Wenn der Körper in Balance ist, bleibt er stehen, sonst fällt er um bis er eine stabile Unterstützungsfläche erlangt. Balancieren wir einen Besenstiel auf unserem Finger, erkennen wir dass dieses Balancieren ein fortwährender Prozess ist, ein dynamischer Prozess, der keinen festen Idealpunkt kennt. Die ideale Dynamik ist ein fortwährendes Balancieren der einwirkenden Kräfte.
Mit zwei Beinen wird das wackelnde Balancieren ein bisschen unauffälliger.
Und stehen wir erst einmal, - lassen unser Gewicht entlang der osteo-myo-fascialen Kraftvektoren sinken - lateral in die Beine hinein, gibt es eine reaktive Kraft, die uns zentral aufrichtet. Das weiche knorpelige Becken beim Neugeborenen ist optimal für den Durchtritt durch den Geburtskanal gewappnet wird durch zunehmende langsame Aufrichtung osteofascial verdichtet und umgebildet.
Diese Kräfte werden natürlich nicht nur ossär und ligamentär – fascial verteilt. Der ganze Körper besteht aus Ballons, sogenannten Kompartimenten, welche die Kräfte aufnehmen und verteilen. Sie sind bei Druck stabil, da sie nicht mit Luft, sondern mit Flüssigkeit und Organen = Zellsubstanz gefüllt sind. Die Zellen bestehen natürlich auch zu großem Teil aus Flüssigkeit. Insgesamt sind ja 68% des Körpers Flüssigkeit. Diese ist nicht komprimierbar und daher wird der Ballon stabil. Stabil-flexibel – tragfähig. Die ganzen Ballons stabilisieren sich wechselseitig und kommunizieren geradezu Druck. Können wir uns Kopf (RTM / Spannungmembran / Hirnhäute) und Becken als hydrostatische Druck-Einheit vorstellen? Wie könnten wir vergessen haben, dass sich der Blutdruck speziell intracranial selbstverständlich ständig an die räumliche Lage des restlichen Körpers anpassen muss. Es ist permanente physiologische Normalität.
Wenn wir denken etwas nach oben heben zu können, ist das eine Illusion. Stehen Sie doch bitte einmal auf. Wie stehen Sie auf? Wie machen Sie das?
Sie drücken mit den Beinen nach unten! Wenn wir einen Wasserkasten heben, heben wir ihn nicht hoch, sondern wir drücken mit den Beinen mehr nach unten. Sie können sich mal auf eine Waage stellen und das überprüfen.
Wofür ist das wichtig? Für unsere Intention die unsere Bewegungsqualität wesentlich bestimmt. Die Intention der Balance. Ich habe eine Bewegungsschule für meine Patienten entwickelt, die nahtlos zur osteopathischen Behandlung passt. Indem wir lernen Kräfte differenzierter leiten zu können, durch-zu-lassen, können wir besser Balancieren. Es macht einen entscheidenden Unterschied ob wir mehr Gewicht nach unten drücken oder ob wir den Wasserkasten nach oben ziehen. Nicht zuletzt erschöpft uns das ständige und aussichtlose nach oben ziehen.
Bitte heben Sie doch einmal Ihren Arm - - - Wie lange können wir den Arm schon oben halten? - Doch sehr begrenzte Zeit.
Mit der Schwerkraft nach unten zu gehen, ist dagegen ein Kinderspiel.
Und trotzdem werden Kräfte nicht einfach direkt weitergegeben, sondern verteilt und gestreut. Die Wirbelsäule ist nicht wie ein Stock gerade, sondern gebogen, schwingungsfähig. Die Last der Wirbelsäule kommt über das Sacrum dorsal des Hüftgelenkes in den Beckenring. Es entsteht ein Strain, eine Verziehung.
Wenn Sie bitte noch mal aufstehen und von einem Bein auf das andere schaukeln – natürlich drücken sie mit dem jeweiligen Bein nach unten. Was fühlen Sie dabei in Ihrer Beckenregion? Ein physiologischer Strain bei jedem Schritt. Der ganze Bogen, ossär, ligamentär, muskulär und fluidal wird dynamisiert. Die sich verteilende, verstreuende Kraft drückt Ballons, Kompartimente – dynamisiert und bewegt die Fluida. Dynamisiert werden Osteozyten und Fibrozyten und so Bänder und Knochen verstärkt. Als ob alle Bereiche durch fasciale Weiterleitung informiert, dynamisiert und synchronisiert werden. JA, unter anderem kommt das „Binde-Gewebe“ hierbei vielfältig zum Zuge.
Regionale Bezirke können so besser unter anderem vor zerstörerischer Überlastung geschützt werden. Auch hier ist Dosierung bzw. Balance der Faktor, der vitalisierende Beanspruchung von schädigender Überlastung trennt.
Diese Widerstände bzw. Strains finden wir auch im frühen Stadium in verschiedensten Systemen als Prinzip für eine Dynamisierung des Körpers. Eine Art Bewegung, als die uns die Neurulation hier als Bewegung im Zeitraffer erscheint. Die Entfaltung menschlichen Lebens mit Widerstand bei Relativbewegungen, so dass eine Verdichtung / Kondensation stattfindet und sich Struktur und Form bildet.
Genauso dynamisch und essentiell vital fühlen sich im späteren Leben verschiedene Gewebedynamiken an, mit denen wir uns als Osteopathen in der Behandlung synchronisieren.
Der Entwicklungs- und Differenzierungsprozess geht vom embryologischen intrauterinen Schwimmen über - zum aufrechten Fortbewegen und Austausch mit der Umwelt. Die Übergänge sind fließend, und während neue Fähigkeiten erworben werden und Differenzierungen stattfinden, gehen die alten Fähigkeiten nicht verloren, sondern werden nur überschrieben. Sie stehen uns als unbewußte, unwillkürliche integrierte Automatik zur Verfügung. Kindliche Reflexe werden überschrieben und Abläufe automatisiert wie man beim Computer weiterhin eine unterliegende MS-DOS Ebene hat, über der man das Windows Programm laufen lässt. Dies eröffnet der Entwicklung neue Potentiale, gibt Freiräume um etwas Neues in Angriff zu nehmen.
Aufrichtung des Organismus beinhaltet wie beim Gehen ein ständiges Wechselspiel von Stabilität und Dynamik. Wir benötigen zur Fortbewegung immer einen Wechsel von stabilem Bein und dynamischen Spielbein. Erst dieser ständige Wechsel lässt uns gehen, generell bei Bewegung das Gleichgewicht halten. Und auch das Herz, wie eigentlich alle Körperfunktionen leben von dieser Schwingung, diesem Hin-und-Her- Prozess. Einem Prozess um eine Mitte herum. Einer ruhenden, wenn auch automatisch shiftenden und dynamischen Mitte, die eine Balance des Prozesses darstellt. Wenn wir ein Fulcrum finden, wenden wir uns der Stille darin zu. Dieses aufsuchen der Balance gibt dem Organismus die Möglichkeit seine ursprünglichen Dynamiken wieder zu entdecken und sich segmental und axial zu reintegrieren.
Es ist erstaunlich, wie umfassend dieses Prinzip zur Wirkung kommt. Auch biomechanisch können wir versuchen unseren körperlichen Schwerpunkt zu fühlen. Wir sehen ihn hier prälumbal in der Zeichnung, sowie bei jedem Schritt etwas verlagert, daher den Rumpf etwas neigend und das Gewebe etwas auswringend. Und wenn wir uns ein wenig Zeit nehmen, vor unserem geistigen Auge ein paar Schritte zu gehen, macht es einen deutlichen Unterschied, ob wir einfach irgendwie gehen, oder mit unserer Aufmerksamkeit von dieser Mitte heraus die Bewegung initiieren. Die Mitte organisiert uns auf den verschiedenen Ebenen. Sie bildet strukturierende, ordnende Achsen. Mittellinien die sich verschieben können und als Funktion existieren. Sie sind keine anatomische Struktur aber sie formen, organisieren Struktur. So wie in den Schulversuchen, wo die Kresse nur dort wächst, wo die Sonne hin scheint.
Wir können verschiedene Mittellinien unterscheiden. Sie treten embryologisch nacheinander auf, Funktionen und Differenzierung induzierend: ventral – dorsal – anterior und zentral. Die ventrale Mittellinie in der Region der Wirbelsäule. Die Wirbelsäule als strukturierendes Organ für biomechanische Funktion. Die dorsale Mittellinie mit fluidal - elektrischer Funktion in der Region des ZNS mit Medulla spinalis. Und dann die anteriore Mittellinie die den Raum seitlich umgreift und die Drüsenfunktionen integriert, zusammen mit der zentralen Mittellinie als elektrische Funktion der prävertebralen Plexuus. Es ist nicht die anatomische Struktur, sondern eine Funktion, wobei sich Funktion und Struktur gegenseitig beeinflussen und die Mittellinien fast wie Charakter oder Wesenskerne der embryologischen Strukturen gesehen werden können. Ein Kern, ein Fulcrum, eine Stille. Es ist diese Stille, die Präsenz in der Stille, der wir uns zuwenden, um ein vertieftes Verständnis der Behandlung zu erreichen – von dem aus wir frei sind angemessen zu agieren. Von dem aus wir fähig sind medizinische Notwendigkeiten zu verstehen und dem Bedürfnis des Organismus zu entsprechen.
Mit A.T. Still gesagt: ‚Grabe weiter’. So bekommt nicht nur unsere Behandlung mehr Qualität, sondern auch wir verändern uns - wir werden aufrechter.
Ist diese Mitte etabliert und flexibel stabil, also dynamisch, haben wir viele Möglichkeiten uns zu organisieren. Unterstützung in Richtung Gesundheit erkennen wir unter anderem auch an der Freude welche die Patienten ausdrücken können.
Ist sie jedoch nicht etabliert, bzw. wurde sie gestört, sehen wir entsprechende Auswirkungen und versuchen in einer Behandlung die Mittellinien Funktion zu unterstützen.
Harmonische Integration und Orientierung durch Mittellinienfunktion sowie Freude ist insbesondere für den Prozess der Aufrichtung wesentlich. So kam dieser Junge mit ausgeprägter Asymmetrie und der schlechten Prognose einer irreversiblen Schädigung.
Ziel war die Optimierung des verbliebenen Potentials. Eine verbesserte Fähigkeit des ZNS zur Anpassung und Entwicklung von Funktion. Zunehmend gelang es eine Mittellinien Funktion zu fördern. Hierfür einen Raum zu halten oder zu eröffnen ist die eigentliche Intervention. Dies kann im „craniellen Feld“ der Gewebedynamik erfolgen, aber auch durch Befreiung biomechanischer oder visceraler Restriktionen. Diese ‚Techniken’ dienen nur dem prinzipiellen Ziel unserer Intention. Im Verlauf der Behandlung wurden Bewegungen freier, stabiler und kontrollierter organisiert, und seine Schreckhaftigkeit nahm ab. Auch andere therapeutische Maßnahmen wie Physiotherapie wurden von der Familie wahrgenommen.
Im Therapieverlauf findet und nutzt der Junge trotz der begrenzten Möglichkeiten immer besser die Mittellinien, kommt auch motorisch zur Mitte und fängt an sich aufzurichten. Eine zunehmende Integration wird sichtbar, und selbst Laufen möchte man nicht mehr ausschließen.
Beobachten Sie bei dieser Animation einmal nur die ‚Entwicklungs-Bewegung’ der äußeren Kontur. Während sich der Embryo von einer Flexionshaltung zunehmend aufrichtet, entstehen intern unterschiedliche Bewegungsmuster. Sie sind alle für die embryonale Gestaltung wichtig und Bestandteil des aufrichtenden Prozesses. Die physiologische Aufrichtung zeichnet sich durch nicht-uniforme Bewegungen aus, (z.B. Ascensus ZNS und Descensus Herz) und somit nehmen wir später auch manchmal gleichzeitige Bewegungen in verschiedene Richtungen wahr.
Dysfunktionelle „Blockaden“ scheinen beim therapeutischen Angebot von Balance ihre verpassten Bewegungen nachzuholen. Stellt sich dynamische Balance ein, verschwindet die Auffälligkeit des Widerstands. Es entsteht physiologische Funktion, Gesundheit.
Dysfunktionen entstehen oft durch „zu gut gemeinte“ Aktionen, willentliche Anstrengungen bei denen wir mit viel Mühe etwas krampfhaft hoch heben, anstatt es durch sinken zu heben.
Es gilt wie gesagt nicht nur für die Motorik im Feld der Schwerkraft, dass ein Aufsteigen, ein Lift, eine Aufrichtung durch ein Sinken in Balance erhält, d.h. Kraft nach unten. Sich sinken zu lassen, um ein ptosiertes Organ zu liften, aufzurichten, ist eine Möglichkeit der Heilung. Es ist ein Aufsuchen von interner Balance um Gesundheit sich wieder ausdrücken zu lassen.
Aber auch bei scheinbar harmlosen Dysfunktionen der HWS mit Nackensteifigkeit, wie hier nach einer Prellung des Hinterkopfes, weiß man nicht genau, welche Strukturveränderungen durch die Störung der Mittellinienfunktion hervorgerufen werden können. Ein Mikrotrauma, eine Kontusion der Bandscheibe, der Facettengelenke könnte eine degenerative Entwicklung begünstigen. Man kann den Gedanken zumindest nicht vollständig von der Hand weisen. Die osteopathische Behandlung ist einfach und sanft. Das birgt gute Möglichkeiten zur Prävention von späteren Schädigungen und Heilungspotential der akuten Beschwerden ohne wirkliche Risiken. Durch ansprechen der Mittellinienfunktion, fängt das Gewebe an zu arbeiten (für manche Patienten deutlich fühlbar als ziehen o.ä.) und das Gelenk versucht seinen Weg zurück zur Physiologie zu finden. Schafft es das nicht ganz, wende ich zum Teil die von mir in einem Artikel beschriebene Slow Thrust Technik an (Osteopathische Medizin 1/2008).
Bei diesem Mädchen kam es aber zu einer Spontanbewegung, die einen spontanen Thrust auslöste und den dysfunktionellen Wirbel so wieder freisetzte.
Dies ist bei Kindern und insbesondere bei strampelnden Babys immer wieder zu beobachten und hängt, nach meiner Erfahrung, von der Präzision der Behandlung ab. Wie genau kann der Osteopath dem Muster des Patienten entsprechen und sich dabei auf Mittellinienfunktion und Gesundheit beziehen?
Später kann man Patienten finden, deren Abweichungen, Verbiegungen mehr oder weniger ausgeprägt sind. Es bleibt uns die Frage, ob wir mit einer Synchronisation der verschiedenen Mittellinienfunktionen im frühen Lebensalter eine bessere Integration der verschiedenen körperlichen Systeme hätten erreichen können.
Aber selbst wenn es bei Kindern ein viel größeres Potential zur Änderung gibt, so kann man doch auch bei Erwachsenen mit kleinem Aufwand, manchmal sogar mit nur einer osteopathischen Behandlung, gute funktionelle Ergebnisse erzielen.
Abweichungen von Mittellinie und Verlust von Aufrichtung haben sehr wohl psychoemotionale Korrelate. Nicht umsonst bezeichnen wir mit Depression eine Ptose, ein Sinken. Und weil wir immer mehr zu heben versuchen, sinken wir erschöpft immer mehr (burn out). Leider lassen wir nicht den sogenannten „Fehler“ sinken um dadurch Freude aufzurichten
- um uns zu liften.
Das Wesen eines Liftes ist das gleitende freie nach oben Schweben. Einfach das „Falsche“ weglassen, sinken lassen – und unser Kern kann aufsteigen, sich aufrichten.
Danke.
Dr. Kilian Dräger D.O.Osteopathikum Hamburg